Ver(w)irrung (18. Oktober 2025)

„Liebe Fahrgäste! Leider verspätet sich die Abfahrt aus einem bizarren Grund: Der dritte Zugteil ist fälschlicherweise auf Gleis zwei statt auf Gleis acht eingefahren, und so müssen wir abwarten, wann er zu uns fahren kann.“ Kein Scherz aus der neuen Bahnserie mit Anke Engelke, sondern Realität. Na, dann warten wir halt. Hoffentlich nicht zu lang. Doch: es wird länger. „Der Lokführer ist noch nicht eingetroffen“, heißt es nun, und: „Sie könnten, um schneller bei ihrem Ziel anzukommen, den nächsten Zug nehmen. Dieser hat zwar aktuell keinen Strom auf der Oberleitung, hätte aber eine schnellere Ausfahrgenehmigung als dieser.“

„Kein Strom und ein Lockführer irrt irgendwo zwischen Gleis zwei und acht umher. Also, das gibt’s auch nur in Deutschland!“, ächzt eine Frau, und ein paar Leute nicken. Auch ich habe ein schlechtes Gefühl mit dem Regionalzug und steige lieber in einen verspäteten ICE um. „Mit dem Deutschlandticket dürfen Sie hier aber nicht mitfahren“, blökt eine Durchsage mir sogleich besserwisserisch entgegen, und ich denke, dass diesen Job jetzt wohl irgendein Klassenstreber ausführt, der einen schon in der Schule immer oberlehrermäßig mit Hinweisen nervte, was man alles nicht darf.

Als ich den Schaffner sehe, sage ich sogleich, dass ich versuche, ein Ticket über die App zu kaufen. „Ich muß nämlich dringend mit. Ich spiele heute noch in Halsbach“, sage ich mit Nachdruck. „Ja ja, wir spielen hier auch den ganzen Tag Zug“, erwidert der Schaffner, und wir grinsen beide. Wenn er wüsste, dass es in unserem Stück eine Zugszene gibt, bei der wir alles in Zeitraffertempo spielen! Bestimmt wäre er neidisch, weil er manches einfach nicht beschleunigen kann.

Ich öffne die App, die mir sogleich anzeigt, dass mein Deutschlandticket teurer wird und ich das bestätigen solle. Guter Witz, aber schlechtes Timing. Ganz die Bahn! Immerhin gelingt es mir, das Ticket für den ICE zu kaufen.

Meine Reise soll mich nach München und dann mit Judith zu unserer Vorstellung nach Halsbach in die bayerische Provinz bringen. Eine Mutter hat uns beide vor einiger Zeit bei einer Firmenveranstaltung gesehen und angefragt, ob wir auch in ein so entlegenes Dorf zu ihnen kommen könnten.

In München steige ich ganz woanders aus als sonst: auf Gleis fünf. Da war ich überhaupt noch nie, und ich bin ja nun wirklich oft in München aus- und umgestiegen. Alles schaut anders aus, ich bin völlig aus dem Gleis gebracht. Ich vergewissere mich, dass auf dem Schild wirklich „München“ steht – nicht dass ich am Ende in der falschen Stadt gelandet bin. Man kann ja nie wissen. Irgendwann kenne ich mich doch wieder aus. Der Weg zum U-Bahn-Gleis ist ziemlich weit. Zum Glück finde ich ihn.

Plötzlich denke ich: Wäre ich Historikerin, würde ich dieses Zeitalter das ver(w)irrte Zeitalter nennen. Das passt irgendwie: Das Wesentliche steht auf dem Abstellgleis. Lust, Liebe und Leichtigkeit zum Beispiel.

Dann bin ich endlich bei Judith. Zum Glück sind wir nur zu zweit und somit schon komplett und müssen nicht auf einen verirrten Lockführer warten, sondern nur einladen und ab die Post! Gleichzeitig findet jedoch im Haus ein Umzug statt. Ich sage: „Oh! Jetzt dürfen wir unsere Sachen nicht verwechseln.“

„Wir haben Siebziger-Jahre-Omasachen“, meinen die Umzugshelfer. Ich antworte: „Und wir Requisiten für ein Stück, wo eine Oma mitspielt.“ „Und unsere Sachen sehen aus wie Requisiten“, scherzen die anderen.

Wir kommen pünktlich an unserem Spielort an. Ein im Dachgeschoß umgebauter, schöner Saal. Es gäbe eine Abkürzung da hin, nur ist da leider eine Baustelle. Überall liegt Geröll im Weg. Die Veranstalterinnen packen gleich tatkräftig mit an und holen erst mal von der Baustelle eine große Schaufel und einen Besen, um den Weg freizuräumen. Ganz anders als neulich beim Auftritt: Da stellten zwei Veranstalterinnen dreißig Stühle auf und waren nur am Jammern und Wehklagen. Als sie zum mindestens zwanzigsten Mal stöhnend beklagten, dass da ja noch ein furchtbarer Stuhl stand, den sie wegräumen müssten, bekamen wir hinter unseren Kulissen einen Lachanfall und raunten uns zu: „Die sollten mal eine Woche in unserem Leben dabei sein.“

Heute ist es anders. Da wird nicht gejammert, sondern angepackt. Das ganze Dorf ist eingespannt. Der Theaterverein hat am Vorabend schon die Bühne und Technik aufgebaut. Apfelkuchen ist gebacken, Kinder haben Schilder für den Getränkeverkauf gebastelt, eine Designerin Plakate gedruckt samt den richtigen Logos der Unterstützer. Stühle stehen, Matten für die Kinder liegen vorne auf dem Boden.

Die Kinder kommen. Alle sprechen Dialekt: „Da sitz i!“ – „Na! Da sitz schon i, da sitzt du!“ – „Na gut, dann sitz i da und du da.“ – „Ja!“

Das Publikum lacht bei unserem Spiel. Am meisten an der Stelle, als wir uns auf die Bank setzen wollen und Oma immer auf meinem Schoß landet. Es ist eine schöne Vorstellung. Hinterher kommt eine Frau daher und sagt: „Des war so schee, so was hab i ja noch nie gsehn!“ – „Das freut mich“, sage ich. „Dann hat sich die Reise ja gelohnt.“

„Für mi auf jeden Fall!“, lacht die Frau. Die Kinder schauen sich noch ein Weilchen den nach vielen Reiseabenteuern gefundenen Bücherschatz aus der Nähe an, und wir unterhalten uns mit ihnen. In einem Bild in einem Buch meint ein Kind plötzlich einen Hund zu erkennen. Und Oma sagt, dass sie sich schon lange einen Rauhaardackel wünscht! Ein Junge erwidert: „Rauhaardackel gibt es aber gar nicht!“ Und wir versuchen ihn zu überzeugen, dass es Dinos und nicht Rauhaardackel sind, die ausgestorben sind.

Und am Ende des Tages ist alles gut. Wir haben unser Ziel erreicht: Freude.

Da fällt mir der schöne, bekannte Satz ein: „Am Ende wird alles gut! Und wenn es noch nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“ Und ich frage mich, von wem das Zitat eigentlich stammt, und finde heraus, dass es weder Oscar Wilde noch John Lennon ist (wie gelegentlich behauptet wird) und auch kein verirrter Lokführer, sondern der brasilianische Autor Fernando Sabino. Sein Vater soll das mal zu ihm gesagt haben, als er niedergeschlagen war: „Mein Sohn, am Ende geht alles gut aus. Wenn nicht, dann nur weil es noch nicht zu Ende ist.“ (Nachzulesen in „O Tabuleiro das Damas“ – „Das Schachbrett“.) Jedenfalls ein schöner Satz für alle.

Und auch ein Ver(w)irrtes Zeitalter muss ja irgendwann mal zu Ende gehen, oder nicht? Hoffentlich erlebe ich das noch, zusammen mit Oma!

 
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