Mit/ohne Herz (21. September 2025)

Der unrenovierte Münchner Hauptbahnhof versucht vergeblich, seinen kaputten Zustand und sein Ächzen wegen viel zu vieler Menschen mit Wandtattoos zu überkleben. Lebkuchenherzen kleben an Geschäftsfassaden. Schwankende Männer kleben daneben und suchen Halt an der Fassade, weil sie ihn in ihrer Lederhose samt Schuhen schon lange nicht mehr finden. Biergeruch wabert durch die Luft. Tattoos verzieren Wadeln, Lederhose und Tattoos werden zu einer Art Ganzkörperkostüm, bei dem man nicht mehr weiß, wo die Haut aufhört und die Kleidung beginnt. Menschen mit „I mog di“-Herzen drängeln sich wutschnaubend an einem vorbei, und ich finde, da sollte eher „I mog di net“ stehen.
Ein Mann erzählt mir, dass man nur noch ins Zelt hineinkommt, wenn man jemanden kennt, der jemanden kennt, und er deshalb nicht mehr zur Wiesn geht. „Net amal wenn man mir zwoahundert Euro gibt, tat i da hinwackeln und mi von so einem Securitytypen nausschmeißen lossn. Oamol is mia des passiert, des mach i nie wieder. Oiso auch wenn mia jemand zwoahundert Euro geben tat, tat i sagn, die konst behalten.“
Wir verabschieden uns, und er sagt zu mir: „Vielleicht sigt ma si mal wieder.“
Schau ma mal, dann seng ma schon, denke ich und bin für heute erst mal froh, die Wiesnweltstadt mit/ohne Herz zu verlassen. Vorher fragt mich noch ein feenartiges junges Mädchen mit Blumen im Haar, wo es zur Wiesn geht: „Theresienstraße, oder?“ Ich antworte: „Nein, Theresienwiese“, und erkläre ihr den Weg, auch wenn sie in meiner Fantasie viel besser auf eine Blumenwiese passen würde als in ein Bierzelt. Aber auch Feen können sich mal verfliegen oder wollen was anderes erleben, und ein Navi haben sie bestimmt auch nicht.
Am Bahnhof gibt es eine Durchsage auf englisch, dass ein Herr irgendwo hinkommen soll. Da erwarte ihn seine Frau, sagt die Stimme mit strengem Unterton. Huch, das riecht nach Ärger, denke ich und reise lieber ab.
Heute würde ich an einem schönen Ort spielen – wurde mir gesagt. Ein Herbstmarkt für Menschen mit Behinderung. Ein Mann mit dem märchenhaften Namen Hans Glück holt mich höchstpersönlich vom Bahnhof Kempten ab. Er strahlt mit der Sonne um die Wette, und ich lande in einer ganz anderen Welt. Vor mir spielt eine Seniorenband, die, wie man mir sagt, aufgrund der Boomer-Generation, die zur Zeit in Rente geht, einer der wenigen Vereine ist, die keine Nachwuchssorgen haben. Die Bühne ist knallvoll mit Bandmitgliedern. Gespielt wird zünftige Blasmusik.
Mein Auftritt folgt danach. Das Publikum sitzt schon gespannt auf Bänken, und es wird eine runde Sache. Die Kinder kichern, die Erwachsenen freuen sich. Es liegt viel Fröhlichkeit in der Luft.
Nach mir tritt eine Hippieband auf: „VETO“. Wie aus der Zeit gefallen, barfuß und in bunten Hippiekleidern, singen sie viele Klassiker wie „Where Have All the Flowers Gone?“ und beenden ihr erstes Lied mit dem schönen Satz: „Love is the answer!“, und das Publikum nickt zustimmend. Kinder tanzen zu Seifenblasen. So friedlich könnte die Welt auch sein, wenn alle friedlich denken würden, denke ich mir.
Wieder am Bahnhof angekommen treffe ich lustigerweise einen Clownskollegen, der barfuß in der Sonne sitzt und auf seine Frau wartet. Er hat wie ich einen alten Koffer vom Auftritt dabei, den er auf einem Skateboard befestigt hat und mit einem Band ziehen kann, wie er mir gleich zeigt. Wir begrüßen uns herzlich, ratschen ein Weilchen, dann muss ich zum Zug. Zum Glück haben wir unsere alten Koffer nicht verwechselt, das gäbe sonst beim nächsten Auftritt einen ziemlichen Schreck.
Der Zug hat allerdings Verspätung, wegen Maßnahmen zur Betriebsstabilisierung (was immer das heißt). Und so ziehe ich meine Schuhe aus, mache es mir in der Abendsonne auf der Bank gemütlich und schreibe diese Zeilen.