Dampf ablassen oder: Aus der Bahn – Schmarrn! (27. Juli 2025)

Heute standen die zwei Zugteile, die laut Durchsage eigentlich aneinandergekoppelt werden sollten, so weit voneinander entfernt, dass man vermuten konnte: Sie hatten Streit. „Ich fahre nicht mehr mit dir mit“, zischte das hintere Zugteil in meinen Gedanken, „so wie du dich da vorne immer aufführst.“

Die Antwort des vorderen Zugteils ließ nicht lange auf sich warten: „So redest du nicht mit mir. Nicht in diesem Ton, nach all dem, was ich bisher für dich getan habe!“ Und der vordere Zugteil spuckte in meiner Fantasie lauter zerknüllte Fahrkarten mit sämtlichen Vergehen der letzten Jahrzehnte aus.

O je! Eine Schaffnerin kam und winkte aufgeregt zwischen den beiden Zugteilen hin und her. Wahrscheinlich hatte sie eine Zusatzausbildung zur Zugbegleiter-Paartherapeutin abgeschlossen und bat die beiden, an das Positive zu denken und wertschätzend miteinander kommunizieren.

Ich hingegen stieg in den vorderen Zug, weil der näher war, und hoffte trotz miteinander streitenden Zugteilen rechtzeitig zum Auftritt zu kommen. Aber ein Puffer war ja eingeplant. 

Einige Zeit später kuppelte der hintere Zugteil mit einem ruppigen Ruck an, der mir durch Mark und Bein fuhr, und wir starteten. Nachdem wir abgefahren waren, begrüßte die Schaffnerin-Paartherapeutin mit säuseliger Stimme die Fahrgäste und bat sie zu überprüfen, ob ihre Fahrräder an geeigneter Stelle gesichert seien.

Den Satz hatte ich auch noch nie gehört, wahrscheinlich ahnte sie, dass es eine schwierige Fahrt werden würde mit den beiden Lebenszugabschnittsgefährten, die bald getrennte Wege gehen würden, ohne Zugabe, und vermutlich ihre letzte Fahrt antraten. Holpernd fuhren wir los, und holprig ging es weiter.

Der Zug stockte irgendwo im Nirgendwo. Ein Geschäftsmann telefonierte ärgerlich mit einem Kunden: Er werde zu spät kommen. Und ein Kind warf heulend eine finster dreinschauende Puppe aus dem Kinderwagen; eine Mutter hob sie immer wieder genervt vom Boden auf.

Nur die Schaffnerin-Paartherapeutin fragte mit säuselnd-nerviger Stimme nach der Fahrkarte, als wäre diese ein Lottogewinn. Ihre überschwengliches „Danke“ bei jedem Fahrgast mit gültiger Fahrerkarte tönte wie ein Echo, das immer leiser wurde, durch den Zug. Und ich nannte sie in Gedanken „Anke“, weil aus dem „Danke“ irgendwann ein „Anke“ wurde.

Neben mir knackte jemand mit den Fingern. Das ist ein Geräusch, das ich überhaupt nicht ausstehen kann. Der Person schien es aber sichtlich Spaß zu machen, sich sämtliche Knochen zu brechen. Ich atmete in meinen Bauch, bis das Fingerspiel endlich vorüber war. Meine Laune verschlechterte sich zusehends. 

Ich fuhr zu einem Auftritt, wo die Leute Spaß gebucht hatten – na toll! Irgendwie aber verständlich, weil die meisten Leute ja an chronisch schlechter Laune leiden. Außer im Internet. Da grinsen sie den ganzen Tag, aber kaum haben sie das Smartphone weggelegt und die Insta-Story beendet, haben sie gleich wieder schlechte Laune und starren mit finsteren Gesichtern genervt in die Gegend. Und wenn dann auch noch das W-LAN ausfällt, wie in diesem Moment, schnaubt sogar die elegant in weiß und Beigetönen gekleidete Dame mit Hochsteckfrisur, hübschem Brillengesicht und Knopf im Ohr gar nicht so charmant: „Scheiß Internetverbindung auf der Strecke!“

Als das Internet wieder geht, sagt neben mir ein Jugendlicher ins Telefon: „Komm, lass uns über Ottilie lästern, die ist so schlimm!“ Eloquent erklärt er der anderen Person in der Leitung, wie schlimm sie ist und dass er glaube, ihre Mutter habe sie zu lange wie ein kleines Kind behandelt. Eigentlich interessiert mich das nicht, aber weghören kann ich auch nicht. „Ottilie ist einfach im Kleinkind-Style. Ich will nicht sagen, dass sie kein herzlicher Mensch ist, aber sie hat kein bisschen Empathie. Ich habe ja auch nicht so viel, aber ich kenne echt viele empathische Menschen. Selina allerdings hat eindeutig zu viel Empathie, also das ist wirklich ein zu hoher Empathiewert!“, dann geht es ums Duschen und dass Ottilie sich öfter die Haare waschen sollte und auf die Hygiene achten muss. „Was ist nur mit dem Kind falsch, Bro?“, fragt das jugendliche Kind ins Telefon und sagt dann: „Der Mensch nimmt den Eigengeruch nicht wahr.“ Und ich denke: Beim Bahnfahren lernt man was fürs Leben!

Nächstes Thema: das eigene Waschritual, das er sehr ausführlich beschreibt, und dass bald ein Parfumkauf ansteht. Puh. Neben mir rollt eine Frau zu den intimen Details des Jugendlichen ein bisschen brüskiert die Augen. Mittlerweile ist er bei seinen tiefsitzenden Vertrauensproblemen angelangt. Leider könne er mit seinen Ärzteeltern nicht so gut darüber sprechen. Sie sagten zwar, er könne mit ihnen über alles reden, aber wenn er es dann tue, antworteten sie nur: „Na ja, so schlimm sind die Probleme ja auch wieder nicht!“ Ich schmunzle, denn eines muss man ihm lassen: Er redet wirklich über alles!

Und als er aussteigt, müssen die brüskierte Frau und ich ein bisschen lachen: „Ärztekind“, sagt sie. Es würde mich nicht wundern, wenn er eines Tages selbst Arzt wird, die faszinierende Ottilie heiratet und sie stets wie ein medizinisches Problem behandelt, bis Ottilie sich selbst gefunden hat oder jemand anderen, der nicht ständig an ihr herumdoktert.

Plötzlich finde ich die Vorstellung, den Auftritt heute übertrieben schlecht gelaunt zu starten, irgendwie lustig. Die Kinder würden mir bestimmt viele Tipps geben, wie ich meine schlechte Laune loswerde. Da hätten sie sicherlich einiges zu erzählen, weil sie ihre müden und überarbeiteten Eltern stets bei Laune halten müssen. Es gibt ja nichts schlechter Gelaunteres als Eltern! Ständig mäkeln sie an ihren Kindern rum, was die zu tun und zu lassen haben. Nur bei Auftritten ist das nervigste Kind – das vermutlich nur das wiedergibt, was ihm die Eltern vermutlich täglich einflößen („Nein, so geht das nicht!“ „Mit vollem Mund spricht man nicht!“ „Nein das geht anders!“) – immer ohne Eltern da! Wahrscheinlich verstecken die sich unterm Sitz und hoffen, dass sie nicht gesehen werden.

Darum wird bei Schul- oder Kindergartenfesten immer dazugesagt, dass heute die Eltern die Aufsichtspflicht haben. Aber auch das nützt wenig, die Eltern machen trotzdem einfach ihr Ding – mit anderen Eltern quatschen zum Beispiel. Am liebsten lautstark über das eigene Kind, das sie in den höchsten Tönen loben: Welche Fortschritte es gemacht hat und wie klug es ist und hochbegabt und hochsensibel! Doch der Zauber des Wunderwesens hält nur so lange an, bis besagtes Wunderkind wieder vor ihnen steht und etwas von ihnen will oder eben nicht will, denn dann merkt man, dass Wunder-Quirin-Jerome ein ganz normales Kind ist und Supermama ein ganz normaler Mensch, der Stress hat, wenn das Kind wütend auf den Boden trommelt, weil es nicht nur ein Eis will, sondern siebenundzwanzig, und keinen glutenfreien Kuchen und zwar sofort! Und auch der erfolgreichste Superpapa hat in diesem Moment keine Kontrolle mehr über sein super Leben samt super Führungsqualitäten, sondern versinkt vor Scham samt neuestem super Smartphone und super Sneakern (für einen super-sportiven Eindruck) einfach nur erschrocken im Boden.

Doch als ich mich durch den Münchner Großstadtdschungel gekämpft hatte und beim Kindergarten ankam, war alles ganz anders! Der ganze Ärger und die Anstrengung der Anreise waren wie weggeblasen. „Die Kinder freuten sich schon!“, hörte ich gleich von einer von innen heraus lächelnden Kindergartenleitung, und da ich mich mit Freude auskenne, freute ich mich auch. Die Eltern waren supernett und aufmerksam und überhaupt nicht so schlecht gelaunt wie oben beschrieben. Und sie lachten und machten mit, und als ich beim Warm-Up scherzhaft zum Publikum sagte: „Und das wichtigste beim Fitness ist: dem Nachbarn die eigenen Muskeln zu zeigen!“, widersprach mir ein Kind und rief: „Glucks, du brauchst doch keine äußere Stärke und keine Muskeln! Auf deine innere Stärke kommt es an!“

Das rührte uns alle so sehr, dass keiner was zu meckern hatte und wir einfach kurz innehielten und spürten, wie schön das Leben war! Wir wussten das einfach – und mussten es uns nicht gegenseitig beweisen.

 

 
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