Sonne ohne Sonne (2. August 2025)

Heute früh lagen so viele Spielzeugdinosaurier in allen Farben und Ausführungen vor meiner Lagertür, dass ich dachte, irgendetwas muss die spielenden Kinder so erschreckt haben, dass sie alles stehen und liegen ließen und das Weite suchten. Wahrscheinlich war es ein Asteroid, ein Erdbeben oder die Eiszeit, die plötzlich hereinbrach, aber vielleicht gab’s auch einfach nur ein Eis. Kalt war es heute morgen, trotz dem von Experten vorausgesagtem heißesten Höllensommer aller Zeiten.
In meinem nächsten Leben werde ich auch Expertin, da kann ich mir irgendwas ausdenken, und alle Leute glauben, was ich sage. Ich würde sagen: „Was ist das nur für ein schöner Tag heute! Genießt das Leben und macht, worauf ihr Lust habt!“ Und die Leute würden mir glauben, weil wenn eine hochgebildete Expertin das sagt, muss es ja stimmen. Ich würde das jeden Tag sagen, und die Leute würden überlegen, was sie mit ihrer Zeit so anfangen, wenn jeder Tag schön wäre und nicht furchteinflößend. Sie hätten keine Angst vor dem Leben und könnten es einfach genießen. „Was könnten wir heute tun?“, würden sie fragen. Und dann würde jedem schon was Sinnvolles einfallen. Irgendwann bräuchten sie keine Experten mehr, weil jeder für sich selbst Experte wäre.
Dann sauste ich mit dem Rad zum Bahnhof, weil am Morgen die Zeit zu schnell vergeht. Zum Glück hatte ich es im Fahrradgeschäft des ehemaligen Radprofis Willi Singer reparieren lassen, und es fuhr schneller als zuvor. Am Bahnhof wurde ich mit „Lassen sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt!“ begrüßt. Das hatte ich sowieso nicht vor, weil da jede Menge Kleidungsvarianten für die Vorstellung heute drin waren. Das Wetter sah ja nicht so verlässlich aus, und das Fest sollte unter freiem Himmel stattfinden.
Im Zug war es ziemlich warm. Da kann man vorher auch nie wissen, welche Jahreszeit gerade ist. Mal ist tropischer Sommer, weil die Klimaanlage kaputt ist, dann wieder eiskalter Winter, weil die Klimaanlage automatisch auf Minusgrade eingestellt ist und nicht abgestellt werden kann. An anderen Tagen weht die Lüftung einen Herbststurm durch die Gänge, oder es ist Frühling – so wie heute.
Auch die Leute waren für unterschiedliche Jahreszeiten gekleidet. Die einen trugen Shorts und T-Shirts, die anderen Schals und Daunenjacken. Bis nach Donauwörth wurde es Herbst, und ich zog immer mehr an. Dann musste ich in einen Zug nach Regensburg umsteigen, der aber – wie mir der Schaffner versicherte – auch nach Ingolstadt fuhr. Wegen Bauarbeiten auf der Strecke war die heutige Zugfahrt etwas umständlich. Der Schaffner begrüßte die Gäste freundlich mit „Guta Morrrga“ und rrrollte das „r“ auf frrröhliche rrrruhige Weise. Er wünschte allen einen schönen Tag, obwohl die Sonne noch nicht hervorgespitzt habe. Aber so wie er das sagte, konnte sie das ja jederzeit noch tun.
Ich dachte: Auch wenn die Sonne nicht scheint, ist sie ja trotzdem da, und machte es mir mit Tee aus der Thermoskanne und mitgebrachter Wärmflasche gemütlich und reiste an schöner Landschaft und besonderen Orten vorbei, deren Namen ich noch nie zuvor gehört hatte.
In Ingolstadt angekommen, holte mich Judith vom Bahnhof mit dem Auto ab, und wir fuhren zum zwanzigsten Jubiläum der Straßenambulanz für wohnungslose und suchtkranke Menschen. Bei Bruder Martin und seinem Team sind wir schon seit vielen Jahren oft zu Gast und wurden herzlich empfangen.
Heute waren wir als britische Bobby-Damen vor Ort. Wir erzählten den Gästen, wir seien extra aus London aus dem Hyde-Park eingeflogen, um bei der Party für Fröhlichkeit zu sorgen. Das Wetter war regnerisch, und unterm Zelt kam Campingplatz-Feeling auf. Die Band spielte, wir tanzten mit unseren Schirmen einen Regentanz, und auf wundersame Weise hörte es plötzlich auf zu regnen. Wir begrüßten jede Menge Gäste und verteilten auch die eine oder andere Universalgenehmigung, die das Publikum berechtigte, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Wir sind ja schließlich in Deutschland – da braucht man für alles eine Genehmigung! Es war ein schönes Fest, und wir freuen uns jetzt schon aufs nächste Jahr. Wer Sonne im Herzen trägt, ist nicht vom Wetter abhängig.
Abends im Lager saß nur noch ein angriffslustiges Spielzeugmonster vor meiner Tür. Ich hob den „Endgegner“ des Tages behutsam zur Seite und stellte ihn unters Garagendach, damit er nicht nass werden würde. Ich selbst freute mich schon auf ein wolkenweiches Bett, in das ich mich nach einem langen Tag bald legen würde und einfach nur dem Regen beim Regnen zuschauen könnte. Ein warmes Bett, Kleidung und genug Essen ist das, was ich allen Menschen wünsche – weil man erst dann das Leben genießen kann.