Baustelle(n) (17. Juli 2025)

Heute hatte ich keine weite Anreise. Ich bin vom Lager an vielen Baustellen vorbeigelaufen bis zum Bus, mit dem ich durch die gesamte Stadt direkt zum Kulturhaus abraxas in Augsburg getuckert bin. Mit dem heutigen Tag und der „Geschichte vom Meer“ habe ich jetzt alle unsere/meine aktuellen Stücke dort gespielt. Es war ein kleines Experiment, weil wir anders als sonst das Theater verlassen haben. Die erste Hälfte fand drinnen und die zweite Hälfte draußen auf der Terrasse und der Wiese statt. Eingeladen war der Kindergarten aus der Nachbarschaft.
Es war schön. Und wir haben sogar einen Schatz gefunden. Dazu mussten wir nicht einmal das ganze Theater auf den Kopf stellen, mit dem Buddeln anfangen und ein Schild aufstellen: „Geschlossen wegen Bauarbeiten!“ Was für ein Glück, eine Theater-Baustelle in Augsburg weniger!
Neben dem abraxas wird nämlich tatsächlich wild gebaut und die alte Kaserne abgerissen. Im Jahr 2019 ist dort unser Stück „Der Bücherschatz“ entstanden. In der letzten Probenwoche fiel die Heizung aus, deswegen war es ziemlich kalt. Ich erinnere mich auch daran, dass wir nach der Probe die Sachen die ganzen Treppen hinauf und hinterher wieder runter getragen haben, weil wir sie nicht zwischenlagern konnten. Das war anstrengend, weil wir gleichzeitig alles selber gemacht haben, Bühnenbild und so weiter. Sind schon widrige Umstände, unter denen wir/ich machmal arbeite(n), deshalb muss ich manchmal über die „Probleme“ der sogenannten Hochkultur etwas schmunzeln. Meine Kollegin hat mal von einem nass-feuchten Proberaum erzählt, da hing ein Zettel an der Wand: „Die Außenwand schwitzt“. Manchmal hilft nur noch Humor.
Aber ich hatte/habe schon auch viel Glück im Leben. Mein erster Proberaum im Jahre 2006 war in München-Giesing. Klein, aber fein. Geteilt mit vielen Leuten, günstig und sogar mit einer kleinen Bühne drin. Nur eine Liste, in die man sich eintragen und aus der man ersehen konnte, wann der Raum besetzt ist. Hat gut geklappt. Altes Brauereigelände. Wurde eines Tages abgerissen.
Auch mein Lager in Augsburg ist ein Glücksfall. Sogar mit Fenstern. Ich habe es seit 2020. Als ich die Requisiten einräumte, war Lockdown. Das war vor fünf Jahren. War das strange! Oft saß ich frustriert da drin und wusste manchmal gar nicht, ob und wann ich jemals wieder spielen würde, oder die Sachen waren gepackt, und dann fiel der Auftritt doch aus. So viele neue Wörter entstanden in dieser neuen Welt. „Exponentielles Wachstum“. Oder „Lockdown“ – das sollte wahrscheinlich cooler klingen als „Ausgangssperre“. Bei dem Wort Lockdown musste ich zu Beginn immer an Lockenwickler denken.
Ich fühlte mich im Sommer 2020 ziemlich lebendig. Mit zunehmender Dauer breitete sich aber auch bei mir eine Art Endzeitstimmung aus. Jeden Tag immer neue Wörter, die im Prinzip das gleiche bedeuteten. Nicht aufzutreten. Virtuelle Zuschauertribüne. Lockdown, Lockdownwelle, Lockdownverlängerung, harter Lockdown, Wellenbrecher-Lockdown, Wellenbrecherteillockdown, Volllockdown, Jo-Jo-Lockdown, Mini-Lockdown, Endloslockdown, Fusballlockdown, Lockdown light. Es war hart. Und surreal. Und kalt. Seltsame Rituale entstanden. Fußshake statt einer Umarmung (mit Milchshake). Und in Niedersachsen gab es sogar eine Regel, wie man Eis zu essen hatte (rasches Lecken an einer Eiskugel während des zügigen Sichentfernens von der Eisdiele, womit ein Heruntertropfen des Eises auf Kleidung oder Fußboden verhindert werden darf; für den Verzehr des Resteises gilt jedoch der Abstand von 50 Metern). Anfänglich haben die Leute noch über so skurrile Regeln gelacht, dann immer weniger. Höllenhundvariante! Home office! Home schooling!
2019 hätte ich noch Bäume ausreißen können, jetzt freue ich mich über schöne Blätter oder zarte Pflänzchen, die in mir gedeihen. Wie vorher kann es nicht mehr werden. Es wurde zu viel gerodet. Ich denke, auch deshalb wird sich die Theaterwelt in den nächsten Jahrzehnten komplett verändern. Umso mehr aus der Zeit gefallen empfinde ich deshalb die Staatstheaterbaustelle in Augsburg, die einfach ignoriert, wie es den Menschen finanziell geht, und auch die Tatsache, dass die Baustelle noch so lange, über Generationen hinweg finanziert werden muß.
Es gibt viele Jugendliche, die damals in der Grundschule waren, die bis heute viel in ihren Zimmern bleiben und nicht ins Leben zurückgefunden haben. Ich kann sie verstehen und hoffe, dass sie Menschen kennenlernen, wegen denen sie raus wollen! Jene Zeit war für viele Menschen schwer, aber für Kinder/Jugendliche halt besonders, weil es ihr halbes Leben war oder die ganze Grundschulzeit oder oder … eine Baustelle über die wenig gesprochen wird, was es auch nicht besser macht …
Die Kinder sind in der Zeit trotzdem gewachsen, aus einigen Stücken, die ich anbiete, über den langen Zeitraum auch herausgewachsen. Manche Auftritte sind überhaupt nie mehr zustande gekommen. Andere schon. Ich glaube, meine „Geschichten vom Tag“ sind auch eine Antwort auf die damalige Zeit, weil ich den Eindruck habe, es passiert täglich so viel und alles kann so schnell und unwiederbringlich verloren gehen, so dass ich es lieber noch aufschreiben will. Länger als ein bis zwei Jahre im voraus plane ich meine berufliche Zukunft seitdem nicht mehr. Ich fokussiere mich stärker auf den Moment. Den Tag. Die Gegenwart.
Heute mussten wir jedenfalls, um den Schatz zu finden, nur das richtige Lösungswort sagen. Welches das ist, verrate ich nicht! Auch Clowns haben ihre Geheimnisse, nicht nur Zauberer, Baustellenbesitzer und Investmentbanker!
Und anders als irgendwelche Börsenkurse hat Kinderkultur beim Wachstum einen ganz klaren Vorteil. Kinder wachsen ganz von alleine! In ihr Glück zu investieren lohnt sich. Und wenn so ein ganzer Theatersaal lacht, kichert und gluckst, dann klingt das wunderschön und ich weiß wieder mal, warum ich tue, was ich tue – trotz den ganzen Baustellen überall.