Erinnerung (13. März 2024)
Vor vielen Jahren war ich mal mit einem Stelzenensemble in den USA, zu einem sechswöchigen Gastspiel mit vielen Auftritten in einem Freizeitpark. Zahlreiche internationale Ensembles waren eingeladen. Beim gemeinsamen Finale mit allen Mitwirkenden wurde jede Gruppe mit Nennung ihres Herkunftslands vorgestellt. Dazu sollte jemand aus der Gruppe die entsprechende Landesfahne in der Hand halten – in unserem Fall die Deutschlandfahne.
Eines Tages wurde mir vor dem Auftritt eine Deutschlandfahne in die Hand gedrückt. Ich spürte, dass ich sie nicht nehmen wollte, und schüttelte den Kopf. Unser sehr netter amerikanischer Ansprechpartner war von meiner Reaktion total überrascht: Eine Fahne zu halten sei doch eine Ehre! Wie konnte ich das verweigern? Ich blieb dabei. Ich wollte keine Fahne schwenken. Keine deutsche, aber auch keine aus einem anderen Land – wenn ich die Wahl gehabt hätte. Es haben sich dann andere aus meiner Gruppe gefunden.
Später suchte unser Ansprechpartner das Gespräch mit mir. Ich versuchte ihm zu erklären, dass ich mich nicht wohl damit fühle, eine Flagge zu halten. Ich empfinde mich als Weltbürgerin und bin nur rein zufällig per Geburt in Deutschland gelandet. Er meinte, ihm sei auch aufgefallen, dass ich bei der US-Hymne am Ende der Show, die wir abends besuchten, nicht wie der Rest des Publikums aufgestanden sei. Ich sagte, dass ich das genauso wenig machen möchte, weil ich Patriotismus ablehne. Es komme mir komisch vor, auf ein Land stolz zu sein. Auch wenn ich in diesem Fall nur zu Besuch war.
Er war überrascht und meinte, die Deutschen seien da wohl aufgrund ihrer Geschichte empfindlicher als andere Nationen. Ich sagte, ja, vielleicht, zumindest bei mir sei das so. Andere aus meiner Gruppe konnten mit meiner Einstellung allerdings genauso wenig anfangen: „Ist doch nur eine Fahne“, sagten sie. „Wir können doch auch auf unser Land stolz sein, so wie die anderen!“ Und sie stellten mir die gleiche Frage: Wo denn mein Problem sei?
Ich erklärte, dass mir Nationalstolz einfach suspekt ist. Ich mag es nicht, wenn sich die einen Menschen über die anderen erheben, was sie ja automatisch tun, wenn sie auf „ihr“ Land und „ihre“ Leute stolz sind. Ich mag dieses „wir“ nicht, das andere automatisch ausschließt. Dadurch kommt viel Unglück in die Welt. Die deutsche Geschichte ist ja ein gutes Beispiel dafür, wie übel Nationalstolz enden kann. Vielleicht lag es außerdem auch daran, dass meine Verwandtschaft auf dieser Welt recht verstreut ist. Das alles versuchte ich vor vielen Jahren unserem amerikanischen Ansprechpartner zu erklären. Wir mochten uns sehr, und ich merkte, dass er mit seinem Herzen verstand, was ich meinte – auch wenn sein Verstand mein Verhalten ziemlich seltsam fand.
Meine Einstellung dazu ist bis heute die gleiche geblieben. Die einzige Fahne, die ich schwenken kann, ist die Friedensfahne. Leider brauchen wir sie mehr denn je.