Sieben (1. Juli 2025)

Eine arbeitsreiche Woche liegt hinter mir. Sieben Tage, sieben Vorstellungen. Vielleicht sollte ich mir wie das tapfere Schneiderlein einen Gürtel nähen und „Sieben auf einen Streich“ draufschreiben? Andererseits tue ich ja nicht mal einer Fliege was zuleide, und auf Machtspiele mit Riesen habe ich auch gar keine Lust, drum würde so ein Gürtel gar nichts nützen. Da streife ich lieber als Clowness mit meinen sieben Sachen durch die Lande – samt meinem Königreich im Kopf. Siebenmeilenstiefel wären eigentlich ganz praktisch.

Die Tage klingelte nach den Auftritten auch öfters das Telefon. Es war kein Märchenprinz und auch nicht König Alfons der Viertel-vor-Zwölfte von der Insel Lummerland am Apparat, sondern nette Kunden. Ein paar schöne Termine habe ich noch in den Kalender eingetragen. Das freut mich, auch wenn ich mein geschätztes Jahreseinkommen bei der Künstlersozialkasse trotzdem rasch nach unten korrigieren sollte. Als Künstlerin muss man das jedes Vorjahr angeben, und letzten Dezember war ich wohl zu optimistisch. Ich finde das eh immer schwer einzuschätzen, weil ich das vorher nie genau weiß, weil ich ja gar kein regelmäßiges Geld bekomme. Aber anscheinend stehen die Leute auf fiktive Zahlen. Leider gibt’s voraussichtlich auch dieses Jahr kein königliches Gehalt für mich. Aber ich möchte mich nicht beschweren. Hauptsache, es reicht zum Leben und manchmal für eine kleine Auszeit.

Neulich habe ich mal den Scherz gemacht: Wenn man wenig hat, hat das den Vorteil, dass man keine Angst haben muss, dass einem viel weggenommen wird! Andererseits hatte ich auch schon mal viel weniger, und das möchte ich nicht unbedingt wieder haben. Als ich vor neunzehn Jahren das Stück „Die Geschichte vom Meer“ konzipiert habe, habe ich mir von meinem fast letzten Geld die Schildkröte, die da mitspielt, gekauft. Damals gab es noch nicht so viel Online-Shopping, ich bin ins Geschäft gegangen und habe mich auf den ersten Blick in diese kleine Schildkröte verliebt.
Ich glaube, so geht es Kindern ständig, drum haben sie so viele Kuscheltiere. Meine Schildkröte war keine teure Investition, aber wenn man wenig hat, sind auch fünfzig Euro viel Geld. Ich arbeite ja mit „armen Theatermitteln“, aber vielleicht hat das den Vorteil, dass es deshalb mehr Spiel von innen braucht. Und die Schildkröte spielt bis heute mit, ich habe sie noch nicht in Altersteilzeit geschickt. Wenn sie hundertfünfzig Jahre alt wird, kann sie noch locker hundertneunundvierzig Jahre weiterarbeiten. Muss ich ja wahrscheinlich auch. Je nachdem, wie alt ich werde. Vielleicht hundertsieben?
Und dann werden Oma, die Schildkröte und ich halt noch ein bisschen langsamer und brauchen einfach mehr Pausen. So wie die deutsche Bahn. Oma hat mir neulich gesagt, dass die Zugführer jetzt nach einer bestimmten Zeit zu Pausen verpflichtet sind. Sie weiß nicht, ob das so entspannt ist, wenn siebenhundert Leute genervt am Bahnhof auf einen warten, und ob man dann gut schlafen kann, aber es würde natürlich die seltsamen Begründungen erklären, weshalb die Bahn neben Oberleitungsschäden, Personalengpässen, Triebwerksstörungen auch solche Durchsagen tätigt: „Sehr geehrte Fahrgäste, unser Stopp verlängert sich, weil der Zug, mit dem das ablösende Personal eintrifft, Verspätung hat.“ So war das am Mittwoch, aber ich bin ja rechtzeitig los und kam zum Glück trotzdem pünktlich zum Aufbau für den „Bücherschatz“.

Wahrscheinlich hat der Lokführer in seiner Pause versucht, mit seiner Oma eine Videokonferenz zu machen. Dabei hat er nur ihr eines Ohr samt grauem Haaransatz gesehen und ihr nicht verständlich machen können, wie sie das Telefon halten muss, damit er ihr ganzes Gesicht sieht, weil sie sonst ja auch einfach telefonieren könnten. Und das kann dauern! Oder hat er sich zum Spaß in Zeitlupe zur Arbeit bewegt wie eine Schildkröte? Oder doch geschlafen? Ich sehe einen friedlich schlummernden Lokführer mit seinem Kuscheltier im Arm vor mir und mit einer aufgezogenen chinesischen Eisenbahnspieluhr, die ganz ohne Verspätung einfach läuft. Er träumt dabei bestimmt von einer friedlichen Welt. Das tue ich auch gerne. Vielleicht eine Ruheinsel in diesem aufgeregten Zeitalter, genannt Schlummerland? Schön ist es da, und alle führen ein königliches Leben! Gefährliche Riesen gibt es nicht, nur freundliche Scheinriesen. Es wird viel gelacht und viel geschlafen! Und keiner macht einem irgendwelche Vorschriften, was man wann zu tun und zu lassen hat. Es ist ein freies Land, in dem man einfach seine Gedanken aussprechen kann. Niemand hat verlernt, die Welt aus den Augen eines Kindes zu sehen. Es gibt selbstverständlich keine mächtigen Menschen, die mit ihrer Arbeit großes Unheil anrichten und wegen denen die Bevölkerung schlechter schläft.

Leider ist das in der Realität anders, und ich habe mich neulich dabei ertappt, wie ich bei dem Satz „Der Zug kommt wegen behördlicher Maßnahmen zu spät“ gleich Schnappatmung kriegte, weil ich das Wort „Maßnahmen“ überhaupt gar nicht mehr hören kann. Wer einmal mit Maßnahmen anfängt, hört bekanntlich nicht mehr damit auf. Das hat man ja die letzten Jahre erlebt. Was die sich alles ausgedacht haben, warum ich nicht arbeiten darf, da sind die Zugverspätungsbegründungen für meine Ohren noch durchaus plausibel. Ich weiß, dass viele das anders sehen, aber ich sehe die Welt auch anders als viele. Drum ist mir das mittlerweile egal. Was mir ab 2020 alles verboten wurde, muss ich erst mal die nächsten hundertsieben Jahre verarbeiten. Wie gnädig von den Herrschenden, dass sie eines Tages die Kunst wieder erlaubt haben! Da ist man ja zu ewiger Dankbarkeit und vorauseilendem Gehorsam auch bei anderen Themen verpflichtet. Sind die Leute deshalb so vergesslich geworden?

Es ist gar nicht so lange her, da durften nicht mal alle Menschen in die Theater. Wie in den Zeiten, als Deutschland noch aus vielen Fürstentümern bestand und es in Opernhäusern üblich war, dass dem unteren Stand kein Einlass gewährt wurde. Da hatte ich dann allerdings auch keine Lust mehr zu arbeiten, wenn nicht alle kommen dürfen. Ich bin doch nicht denen ihr Hofnarr! Diese Maßnahme ärgert mich übrigens bis heute am meisten.

Ansonsten hat mich schon immer der alljährliche Brief von der deutschen Rentenversicherung irritiert, wie wenig Rente ich in ferner Zukunft bekomme, wenn ich weiterhin so viel einzahle wie die letzten fünf Jahre, was ich ja wiederum nicht wissen kann. Ich packe den Zettel dann immer ganz beschämt weg und versuche, an was Schönes zu denken. Ich hätte in den letzten fünf Jahren mehr arbeiten können, ohne anderen zu schaden, da bin ich ziemlich sicher. Und wenn ich krank bin, arbeite ich halt nicht. So einfach wäre das gewesen. Ist ja kein Hexenwerk, zu bemerken, ob man krank ist oder gesund. Verflixt und zugenäht, was war das alles für ein Oberleitungsschaden! Und jetzt will’s keiner gewesen sein! Aber nun wird alles gut, denn es gibt ja bald eine Kommission, die das alles nach fünf Jahren zwei Jahre lang aufarbeiten wird! Das Ergebnis nach sieben Jahren im Jahre 2027 prophezeie ich jetzt schon: ein an den wichtigsten Stellen geschwärztes Märchenbuch mit sieben Siegeln. Und die riesigen Kritikpunkte, um die es eigentlich gehen müsste, erscheinen dann klein wie Zwerge. Wer einen Teich austrocknen will, sollte halt nicht die Frösche fragen. Auch nicht als „Experten“ verkleidete Frösche, die gerne in Talkshows rumquaken. Meine Meinung. Derzeit regiert in Deutschland ein Typ, der Krieg eine gute Sache findet und die Bevölkerung belehrt, sie solle halt täglich mehr arbeiten! In meiner Fantasie verwandelt sich so ein gräßliches Gerede einfach in einen schwarzen Stein. Der kann meinetwegen den ganzen Tag faul in der Sonne liegen, aber am besten in der Ebene, damit er der Bevölkerung nicht eines Tages auf den Kopf fällt!

Meine Arbeit mache ich trotz allem gerne, und für sinnvoll halte ich sie auch. Das lasse ich mir von keinem Möchtegernriesen wegnehmen, und so schreibe ich halt zur Verarbeitung der Gegenwart den einen oder anderen trotzigen Text. Den Satz „Sorry-wäre-schön-gewesen-aberl-eider-keinGeld-da“ für Auftritte, die sich als Luftschlößer entpuppen, höre ich auch schon viel zu lange. Gewöhnen tue ich mich trotzdem nicht daran. Vor allem wenn man gleichzeitig sieht, für was alles unendlich viel Geld da ist. Am meisten Geld wurde und wird von jenen in den Sand gesetzt, die ihre Schäfchen schon im Trockenen haben. Ich ahne, dass das wohl noch eine Weile so weiter gehen wird ...

Aber vielleicht hat die Mutter, die ich neulich nach einem Auftritt in Königsbrunn in der Straßenbahn traf, ja recht. Sie meinte, eines Tages werde die freie Kunst wieder mehr gesellschaftlichen Stellenwert haben. Wäre doch ganz schön. In meinem Königreich im Kopf ist das ja schon lange so … Da schweben Dichterinnen und Denker gemeinsam mit Tagträumerinnen und Taugenichtsen auf Wolke sieben, um später mit dem tapferen Schneiderlein, das schon lange kein König mehr sein will, eine Runde auf dem Tisch zu tanzen. Es wird geteilt und nicht geherrscht. Essen, Geschichten und Gedanken werden einfach an andere verschenkt. Bis es so weit ist, fand ich den Namen der Haltestelle beim Siebentischwald, wo ich für einen Auftritt in Augsburg ausgestiegen bin, für die Lage in Deutschland ganz passend: Beim dürren Ast!

Und zu guter Letzt – weil mich der Opa vom Lokführer, der leider in seiner Jugend einen Krieg erleben musste, neulich in Schlummerland besucht hat –; er sagte mit traurigen Augen: „Es gibt keine tapferen Kriegshelden – egal was sie euch für Märchen erzählen. Denn wenn sie nicht selbst wie die Fliegen gestorben sind, dann leiden sie noch heute!“ Und wir alle in Schlummerland waren uns einig: Das einzige, was sich jemals zu „verteidigen“ lohnt, ist der Friede. In jedem Land! Und selbstverständlich die Freiheit der Kunst …

 
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