Auftritt im Amt (10. März 2025)
Heute bin ich zu einem aufregenden Auftritt gefahren. Die Anfrage hatte mich kurzfristig erreicht. Die Vorstellung fand im Jugendamt statt, für zwei Mädchen und ihren Vater, den sie dort treffen würden. Gebucht hatte mich ein alter Freund des Vaters, weil eines der Kinder Geburtstag hatte und das ausgiebig gefeiert werden sollte. Er wollte mich auch am Bahnhof abholen. Am Morgen telefonierte ich mit der zuständigen Person im Amt. Den Raum, den sie „Umgangsraum“ nannte, beschrieb sie als recht klein mit einem großen Tisch darin, und ich spürte bereits ein Gefühl der Enge, falls wir uns nur dort aufhalten könnten. Ich fragte, ob ich nach der Vorstellung die Schatzsuche auch außerhalb des Raumes machen könnte? „Es ist halt ein Amt mit Besucherverkehr“, sagte sie. „Ob das geht, müssten Sie dann vor Ort klären.“
Bei meiner Anreise im Zug fuhr ein Vater mit Kleinkind mit. Er war so liebevoll mit seiner Tochter. Er summte und plauderte mit ihr. Später wollte sie nicht gewickelt werden, weinte und quengelte, aber ihr Papa beruhigte sie mit sanfter Stimme. Die Fahrgäste, die hinter den beiden saßen, machten die lustigsten Grimassen, um die Kleine aufzuheitern. Dann fütterte der Vater das Kind, das wieder vergnügt vor sich hin brabbelte. Wenn Menschen an ihr vorbeiliefen, winkte sie ihnen zeitversetzt zu: Immer erst dann, wenn sie schon viele Meter weiter gelaufen waren, hob sie ihr kleines Händchen in die Luft und klappte die Finger zum Winken rauf und runter.
Das letzte Stück fuhr ich Taxi, weil es mal wieder eine Zugstörung gab und das die einzige Möglichkeit war, noch rechtzeitig anzukommen. Als ich dem älteren Taxifahrer die Adresse des Jugendamtes diktierte, fing er an, aus seinem Leben zu erzählen. „Ach ja, das Jugendamt“, begann er. „Da war ich mit meiner Exfrau. Mit ihr hatte ich drei Kinder!“ Er atmete tief durch: „Doch dann stellte sich heraus, daß alle drei Kinder gar nicht von mir waren.“
„Oh“, sagte ich. „Aber Sie haben die Kinder sicherlich trotzdem sehr geliebt?“ „Ja“, antwortete er, „nur wollten die Kinder keinen Kontakt mehr mit mir. Ging nicht von mir aus, ich hätte sie gerne weiter gesehen.“ Und er ergänzte: „Auch wenn das schon sehr lange her ist, ist das heute noch traurig, aber ich konnte nichts dagegen tun.“ Das verstand ich und nickte mitfühlend.
Beim Jugendamt angekommen, brachte ich meine Sachen in den kleinen Raum. Anschließend fragte ich beim Pförtner, ob ich meine Papierfische für die Schatzsuche nach der Vorstellung im Gang verstecken könne, weil der vorgesehene Raum für die ganze Action zu klein war. Er nickte zunächst, gab dann aber doch lieber meine Frage an die „Oberpförtnerin“ weiter. Sie saß auf einem hohen Drehstuhl und sagte mir, daß sei keinesfalls möglich, weil um Punkt 13 Uhr 30 der Publikumsverkehr hier auftauchen werde. Das sei in zehn Minuten. Ich erwiderte, dass das sicherlich später niemanden groß stören würde, sondern die Leute bestimmt erfreut wären, das zu sehen: mich als Clown und zwei Kinder. Aber sie blieb stur. Ich entdeckte draußen eine Wiese und fragte, ob ich dann wenigstens die bespielen könne? Das wurde gnädigerweise genehmigt, obwohl die Wiese vermutlich auch zum Grundstück des Amtes gehörte. „Brauche ich dafür noch einen Stempel?“, fragte ich verschmitzt. „Nein“, sagte sie. „Gut“, sagte ich und ging zur Tür. Dann drehte ich mich noch mal um: „Geht vielleicht wenigstens ein Papierfisch mit der ersten Aufgabe bei dieser Zimmerpflanze hier auf dem Weg nach draußen?“ „Ja, na gut!“, ließ sich die Oberpförtnerin erweichen. „Aber nicht in der Erde wühlen und diese rumwerfen!“ Sie redete mit mir wie mit einem Kleinkind.
Ich sagte, dass ich das mit den Kindern nicht vorhatte, und musste über ihre blühende Fantasie ein wenig schmunzeln. Mit Erde rumwerfen! Wahrscheinlich saß sie den ganzen Tag da oben auf ihrem Beamtenstuhl und malte sich die schaurigsten Dinge aus, die die Leute tun könnten, wenn sie nicht aufpasste, dass sie es nicht tun. Als ich die Fische auf der Wiese versteckte, fiel mir jedoch ein, dass ich bei einem Stück vor vielen Jahren tatsächlich mal mit sehr viel Erde rumgeworfen hatte. Nämlich bei meinem damaligen Kurzprogramm für Erwachsene und ältere Kinder. Darin topfte ich eine Pflanze um, und eine Stimme aus dem Off warnte mich ständig mit dem Satz: „Alles muss sauber bleiben!“ Die Ansage war mindestens so streng wie die Stimme der strengen Oberpförtnerin.
Im Stück bemühte ich mich, alles ordentlich zu halten, fegte, staubsaugte und legte sogar ganz gewissenhaft eine Plastikplane aus, damit alles schön sauber blieb. Aber dann ging es mit mir durch! Und zwar in dem Moment, als ich die Packung Pflanzenerde mit einem Teppichmesser aufgeschlitzt hatte und die Erde in meiner Hand hielt! Zur Musik von „Anarchy in the UK“, schmiss ich nach und nach die ganze Erde in die Luft und über mich selbst, um mich dann mit einer Gießkanne voller Wasser zu begießen und schalkhaft den letzten Satz des Stückes zu sagen: „Alles wieder sauber!“ Eine Riesensauerei und ziemlich lustig, sogar ein wasserdichtes Mikro hatte ich mir damals gekauft und viel geprobt. Wurde nur nicht allzu oft gebucht, das Stück.
Heute aber war ich mit einem anderen Programm da, einem für Kinder und nicht für strenge Oberpförtner! Mir schwante jedoch, dass ich hier eine ziemlich schwere Mission haben würde: einen liebevollen Auftritt meistern – an einem eher gewöhnungsbedürftigen Ort mit dunkelbraunen Kacheln an den Wänden, niedrigen Decken und vielen Verboten. Geht das überhaupt? Ich vermutete, dass der Tag nicht ganz einfach werden würde. Und so kam es auch.
Als ich geschminkt und umgezogen war, wollte ich gerade mit dem Freund des Vaters zu dem Zimmer gehen, wo der Auftritt stattfinden sollte – und schon bekam ich ein kleines Drama mit: Die Mutter brachte die Kinder und ging wieder. Ich hörte eines der Mädchen „Mama!“ rufen, und es stellte sich heraus, dass eine der beiden nicht zum Vater wollte. Eine Dame vom Jugendamt lief gestresst auf und ab und sagte, sie setze sich jetzt mit dem Kind in den Gang. Vorher hörte ich noch, wie sie den Freund des Vaters wegschickte, der hier in ihren Augen nichts zu suchen hatte. Er wollte im Gang eigentlich nur auf mich warten, um mich später wieder zum Bahnhof zu bringen. In den Umgangsraum durfte er nämlich auch nicht mit, um die Vorstellung anzuschauen. Das hatte er mir vorher schon gesagt.
Nun wusste ich freilich nicht: Sollte ich überhaupt auftreten oder gleich wieder abreisen? Aber der Vater und seine andere Tochter winkten mich zu sich, und so begann ich mein Spiel. Das Mädchen und ich waren beide aufgrund der beklemmenden Situation verunsichert und schauten uns erst mal an. „She is the birthday child“, sagte der Vater. Zart begann ich mein Spiel für das Geburtstagskind. Sie und ihr Papa schauten mir aufmerksam zu.
Nach und nach schmolz das Eis, und ich tat, was ich konnte, um eine liebevolle Stimmung in diesen engen Raum zu bringen und eine schöne Vorstellung zu kreieren. Der Vater half auch mit. Weil ich wusste, dass er wenig Deutsch sprach, aber Englisch, sprach ich Deutsch für das Kind und ab und zu Englisch für den Vater. Er war sehr aufgeregt, betrachtete liebevoll seine Tochter und war gleichzeitig traurig, weil die andere Tochter draußen war. Der Vater und das Kind sprachen miteinander Arabisch. Plötzlich tauchte ein Dolmetscher vom Amt auf, den ich vorher schon kurz gesehen hatte, und holte den Vater nach draußen zu dem anderen Kind.
Ich spielte weiter für das Mädchen, und wir mochten uns immer mehr. Es war natürlich ganz anders als sonst. Normalerweise habe ich mehr Platz und viele Kinder im Publikum, aber zugleich spürte ich, dass es wichtig war, dass ich da war. Draußen begann es in Strömen zu regnen, die Schatzsuche auf der Wiese konnte ich also vergessen. Ich plante um, und wir ließen uns vom Spiel treiben. Und es spielte in der heutigen Version plötzlich eine Meerjungfrau mit, die das Mädchen erfand. Auch holte ich eine Muschel hervor, die ich nur selten bei wenig Publikum benutze, und hielt sie ihr ans Ohr. Die Fische waren erst imaginär, dann zeigten sie sich als Steckdosen im Raum. Den Schatz fanden wir im Schrank. Das Geburtstagskind nahm zwei Bonbons aus der Schatztruhe. „Ein Bonbon für mich und eines für meine Schwester“, sagte sie und rannte fröhlich aus dem Zimmer zu ihrer Schwester auf den Gang. Ich wartete drinnen.
Dann gab es Torte, und ich sollte unbedingt mitessen. Das Geburtstagskind gab mir ein Stück vom Schokokuchen ab und brach mir etwas von der Zuckergussplatte mit ihrem Namen ab. „Ich will meinen Namen schreiben!“ Sie nahm eine kleine Blume von der Torte und sprach mit dem Vater. Danach sagte sie ganz erstaunt zu mir: „Die kann man auch essen!“, und stibitze eine zweite Blume von der Torte und legte sie auf meinen Teller. Ich wollte mir die süße Margerite zum Spaß in die Haare stecken, da lachte sie und sagte: „Nein, nein!“ Und zeigte auf meinen Mund. Wir aßen zu viert. Der Vater, der Dolmetscher, das Geburtstagskind und ich.
Dann spielten wir noch ein bisschen weiter. Ich gratulierte ihr mit einer kleinen Einlage zum Geburtstag. Überraschenderweise kam auf einmal die zweite Schwester in den Raum. Gut gelaunt und gar nicht mehr traurig. Das Geburtstagskind wollte, dass ich meinen großen Koffer für sie öffnete, und ich überlegte kurz, ob ich jetzt noch mal ganz von vorne mit der Vorstellung beginnen sollte. Aber sie wollte ihrer Schwester nur die Muschel zeigen, um sie ihr ebenfalls ans Ohr zu halten.
Plötzlich redete der Vater mit den Kindern und dem Dolmetscher Arabisch, und alles ging durcheinander. Die Frau vom Jugendamt war auch wieder da. Es wurde wild gestikuliert, und ich verstand nichts, aber ich spürte, dass in diesem Raum ganz viele Emotionen waren. Auf einmal herrschte große Aufregung, und das Geburtstagskind rief: „Aber sie muss mit!“ Und zeigte auf mich. Kurze Stille, alle schauten mich an. Ich fragte: „Wohin?“ Und sie antwortete: „Wir gehen jetzt zu Sushi!“ Und ich fragte erstaunt: „Sushi?“ Und der Vater rief : „Jala! Jala!“, und die Kinder riefen auch freudig: „Jala, jala!“ Und der Dolmetscher sagte, ich könne noch in ein nahegelegenes Sushi-Restaurant mitkommen. Verblüfft über diese spontane Idee, beschloss ich, auf ein Getränk mitzugehen. Eigentlich war meine vereinbarte Zeit schon rum, aber ich spürte, dass meine Arbeit noch nicht ganz vollendet war.
Ich packte meine Sachen. Das Geburtstagskind half mir beim Aufräumen. „Aufräumen! Ich helfe dir!“, sagte sie und räumte voller Freude mit mir meine Sachen wieder in den Koffer. Der Freund des Vaters lud mein Gepäck ins Auto und fuhr mich ins Restaurant, die anderen bestellten ein Taxi. Er durfte schon wieder nicht mit, versprach aber, auf mich zu warten und mich netterweise später sogar mit dem Auto zum Flughafen in München mitzunehmen, von wo ich dann mit dem Zug weiter nach Augsburg fahren würde. Das war mir sehr recht, denn so bliebe mir eine mindestens dreistündige Bummelzugfahrt erspart, und wer wusste schon, ob der Schaden bei der Bahn in der Zwischenzeit behoben war.
Und so stand ich auf einmal mit dem Dolmetscher vom Amt, der Frau vom Amt, dem Vater und den beiden Kindern in einem Sushi-Restaurant unter einem künstlichen rosaroten Kirschbaum. Ich fand es dort viel schöner als im Jugendamt. Was nahm dieser Tag nur für überraschende Wendungen!
Wir setzen uns, und die Dame vom Amt klappte ihr Notebook auf und machte sich Notizen. Sie fragte mich, ob ich für eineinhalb Stunden gebucht sei. Ich antwortete: Eigentlich nur für eine Stunde, ich hätte aber das Gefühl gehabt, es wäre gut, noch hierher mitzufahren, weil mich das Geburtstagskind gefragt habe. „Ja, uns geht es hier auch ausschließlich um das Kindeswohl“, sagte sie, und ich fand, dass das irgendwie aufgesagt klang. Sie tippte hastig Textzeilen in ihr Notebook und sagte dem Dolmetscher, dass sie unbedingt pünktlich wieder zurück im Amt sein müssten und der Vater schnell bestellen müsse, damit zeitlich alles zu schaffen sei. Sie glaube ja nicht, dass das zeitlich überhaupt gehen könne – mit Bestellung, Essen und Kellnern, die scheinbar gerade jetzt Pause machten! Ich sah, dass der Vater mit beiden Kindern spielte und die Kellner Kaffee tranken. Ich könne ja der Bedienung schnell Bescheid geben, damit sie kommt und die Bestellung aufnimmt, antwortete ich auf ihre Bemerkung. Aber das war die falsche Antwort. Die Frau vom Jugendamt belehrte mich: „Das sollte nicht DER Glucks, sondern DER Vater regeln. DER Glucks sollte das nicht tun, auch wenn das nett gemeint ist. Das muss der Vater schon alleine hinbekommen!“ Ich jedoch belehrte sie im Gegenzug nicht, daß ich „die“ und nicht „der“ Glucks bin. Manchmal ist es besser, Besserwisser in dem Glauben zu lassen, sie wüssten alles besser, dann haben sie nämlich bessere Laune. Alte Clownsweisheit.
Der Vater wurde vom Dolmetscher angewiesen, zügig zu bestellen, was er auch gleich tat. Ich meinerseits bestellte ohne Dolmetscher einen Apfelsaft und die Frau vom Jugendamt „ein stilles Wasser, aber auf eigene Rechnung!“ und schrieb weiter in ihr Notebook. Wahrscheinlich über das Verhalten des Vaters gegenüber seinen Kindern. Der Dolmetscher musste einiges übersetzen, was der Vater zu den Kindern sagte, und ich glaube, ich war die einzige, die jetzt halbwegs entspannt war, auch wenn ich den Druck, unter dem der Vater und auch seine Kinder standen, deutlich spürte. Ich fragte mich, ob der Dolmetscher eigentlich alles übersetzte oder manches aus Diskretion wegließ.
Die Kinder waren in der Zwischenzeit am Telefon. Sie machten einen Videocall, vermutlich mit Verwandten des Vaters. Ab und zu hielten sie mir die Kamera hin, und ich winkte hinein. Dann hörten die Mädchen auf zu telefonieren und packten große Geschenke aus. Ich trank mein Getränk und sagte den Kindern, dass ich nun gehen müsse, weil ich noch eine lange Heimreise vor mir hätte. Da waren sie ein bisschen traurig, aber sie spielten wieder mit dem Vater, und ich dachte, das sei ein guter Moment für den Abschied. Besser als vorhin. Der Vater gab mir eine kleine Umarmung und bedankte sich, vor allem auch mit dem Blick in seinen Augen. Und die Kinder fragten, ob ich morgen wieder käme? „Nein“, sagte ich, „aber ich wünsche euch ganz viel Glück!“ Und wir umarmten uns. Der Frau vom Amt gab ich förmlich die Hand, dem Dolmetscher ebenso. Clownssprache sei die einzige Sprache, die er nicht übersetzen könne, meinte er lächelnd, und ich lächelte zurück.
Ich weiß nicht, was alles in der Familie vorgefallen ist, aber es war offensichtlich keine leichte Situation. Und der Vollständigkeit halber müsste man natürlich alle Perspektiven kennen: die der Mutter, die des Vaters und die der beiden Kinder. Vielleicht auch die der Frau aus dem Amt und die des Dolmetschers.
Aber aus meiner Perspektive kann ich sagen: Ein Amt ist kein einfacher Ort für eine Begegnung mit den eigenen Kindern, vor allem nicht wenn man Zeitdruck hat und gleichzeitig observiert wird. Ich hoffe, daß die drei trotzdem einen Weg zueinander finden …