Scheinwerfer (2. März 2025)

Mit einer verengten Sichtweise ist es, als würden einem nur die Farben rot, blau, grün und gelb angeboten. Aber wenn ich meine Augen öffne, sehe ich: kirschrot, feuerrot, himmelblau, türkisblau, grasgrün, apfelgrün, flaschengrün, honiggelb, sonnengelb und hunderte andere Farbvarianten. Und jede Farbe ändert sich mit dem Licht, in dem ich sie betrachte. Und jede Farbe wird ohne Scheinwerfer, die sich auf sie richtet, von der Dunkelheit verschluckt und verschwindet in der Bedeutungslosigkeit.
Lichtprobe auf der Bühne. Wir feilten mit dem Lichttechniker daran, wie die erste Szene, die im Park spielte, beleuchtet werden sollte: ob das Weltall bläulich oder vielleicht lieber violett erstrahlen würde. Und wie die Plastikplane erst milchweiß als Mondoberfläche und später bei der Landung mit dem Fallschirm im Meer grün-blau schimmern könnte. Wir experimentierten, wie die Discolichter unseren Anzieh-Tanz bunt beleuchteten. Und wie das Publikum mit Saallicht bei den interaktiven Stellen einzubeziehen sei und der Vorhang geheimnisvoll angeleuchtet würde. Ich genoss diesen Moment. Fokussiert. Ohne Ablenkung. Die Anspannung war greifbar, weil die Vorstellung bald beginnen würde. Aber es war eine schöne Anspannung, weil wir was Schönes vorhatten. Alle im Raum ließen sich ein: auf eine Stunde Theater.
Später schminkten wir uns. Ich betrachtete meine Farbpalette und mischte pink und rot für meine Lippen. Zum Abschluss öffnete ich meine silberne Dose und puderte mein Gesicht mit einem weichen Pinsel, der mich etwas kitzelte.
Dann der Einlass. Kinder strömten in den Saal. Wir standen versteckt hinter den Kulissen. Ich setzte meine rote Nase auf. Stimmengewirr. Erwachsene gaben Anweisungen, wer wo sitzt und wer wo nicht sitzt. Stühle wackelten. „Wann fängt es endlich an?“ Das Saallicht erlosch. Das Bühnenlicht ging an. Es ging los. Wir spielten. Ich spürte die Wärme des Publikums. Sound an. Erstes Kichern. Ich rannte in die imaginären Arme von Oma. Sie war nicht da. Ich fragte: „Oma?“ Ich suchte Oma. Und war wieder weg. Oma kam. Das gleiche Spiel. Sie fragte: „Glucks?“ Wir suchten und verpassten uns. Wir sahen und verwechselten uns, weil wir gerade die spielten, die wir suchten. Ich trug einen Hut und sagte zu den Kindern: „So sieht Oma aus!“, und imitierte ihren Gang. Dann verschwand ich. Oma tauchte auf und sagte sie suche Glucks, und so sehe sie aus: Sie steckte sich eine Blume an den Hut und imitierte meinen Gang. Ich trat wieder auf. Wir liefen aufeinander zu. Wir glaubten plötzlich einen Spiegel vor uns zu haben und sahen uns selbst vor uns. Das Publikum lachte. Wir spiegelten synchron unsere Bewegungen. Wir fassten durch den Spiegel. Ich nahm Omas Blume ab und sie meinen Hut. Da erkannten wir uns endlich und umarmten uns. Wir haben das Stück schon mehr als hundertmal gespielt. Jedes Mal war es anders. Immer leuchtete eine andere Szene besonders hell.
Applaus. Danke, dass ihr alle da wart. Jedes Kind hat die Geschichte auf seine Weise erlebt. Ohne Publikum wäre unsere Arbeit nicht sichtbar. Bühnenkunst ist verletzlich, weil sie nur durch die Verbindung mit der Außenwelt leben, strahlen und pulsieren kann.
Wie viele Menschen bräuchten ein Publikum und haben keines? Wie viele Menschen haben zu viel Publikum und bräuchten es nicht? Wäre jeder Mensch gleich wichtig, wäre für jeden Menschen genug da. Genug Liebe. Genug Geborgenheit. Genug Aufmerksamkeit. Ein bisschen besser verteilt. Und alle hätten was davon. Jeder könnte sich aussuchen, ob er lieber im Schatten steht oder im Licht. Jeden Tag. Immer wieder neu. Es wäre möglich.
Ich ging heim. Es wurde dunkel. Keine Scheinwerfer strahlten mehr auf mich. Auch nicht auf die anderen Passanten, die wie Schatten an mir vorbeihuschten. Ich sah grelles Licht flackern. Fernseher flimmerten hinter Fenstern. Nachrichtensprecher in engen viereckigen Sichtfenstern erklärten den anderen Menschen die Welt. Täglich, stündlich, minütlich, sekündlich. Nie ohne neue News. Nie haben die Nachrichten Pause.
Ich schon. Stille. Ruhe. Ich schaute in den sternenklaren Himmel. Ich mag die Dunkelheit. Der Mond schien. Gedanklich legte ich mich in die silbrige Mondsichel und machte es mir bequem. Ich schloss die Augen und dachte daran, daß es auf der Erde über 16 Milliarden Augen gibt und ein unendlich großes Universum voller funkelnder Sterne um uns alle herum. Die einen Menschen sind wach, während die anderen schlafen. Die Erde dreht sich. Vom Polarstern aus könnte ich die Rotation der Erde sehen. Von der Nordhalbkugel sieht es so aus, als drehte sich der ganze Himmel nur um den Polarstern. Dabei ist das bloß eine optische Täuschung, weil er sich in der Nähe der Drehachse der Erde befindet und sich nur scheinbar nicht bewegt. Der Polarstern ist eigentlich ein ganz normaler Stern. Von der Südhalbkugel aus kann man ihn nicht mal sehen.
Ich versank in Gedanken. Ich dachte an das Spiel „Ich sehe was, was du nicht siehst.“ Ich sah eine Welt mit mehr Scheinwerferlicht und Sonnenstrahlen für alle. Vorbei die Zeiten, da sich die ganze Aufmerksamkeitsökonomie nur um ein paar Stars und Sternchen drehte. Vorbei die Zeiten, wo wenige Menschen viel zu viel Macht über andere haben. Das ist das Verkehrte an der Welt.
Es muß magisch sein, die Erde vom Weltall aus zu sehen: den blauen Planeten. Er heißt so, seit Astronauten der Apollo 17 das bekannte Foto des voll erleuchteten Erdballs als „blue marble“ aus einer Entfernung von rund 29 000 Kilometern machten. Die Originalaufnahme zeigt den Südpol von oben. Die Welt steht Kopf. Oder auch nicht. Je nachdem, aus welcher Perspektive man die Welt betrachtet …
Ich habe mal gelesen, die Sonne sei eigentlich gar nicht gelb, sondern weiß. Mit einem minimalen Orangeton darin. Und es gibt so vieles, was aus anderer Perspektive und mit dem Verständnis für eine neue Sichtweise das Farbspektrum erweitern kann. Ich sehe dann vielleicht, wie du es siehst. Und andersrum. Farben werden neu gemischt, auch Sichtweisen. Es wäre möglich. Die Menschen auf der Erde müssten nur die Scheinwerfer neu ausrichten. Mit diesem Gedanken entspannte ich mich und schaltete ab.