Jurygefühl (6. Februar 2025)

Heute war ein ungewöhnlicher und etwas seltsamer Tag. Morgens erfuhren wir zehn Minuten vorm Auftritt in München, dass eine Gruppe, die zur Vorstellung angemeldet war, kurzfristig doch nicht kommen konnte. So wurden es sehr wenige Gäste. Judith, die heute Oma spielte, meinte hinterher treffend: Das Gefühl, zu spielen, sei wie in einem Casting gewesen. Das Publikum saß mit ernstem Blick in der ersten Reihe. Wie eine Jury. Sonst starrten uns nur viele leere Stühle an.

Wir hingegen waren bestens ausgestattet mit Headsets, um den ganzen Saal bis in die letzte Reihe voller potentieller lebhafter Kinder zu beschallen. Wir hatten vorher mit dem netten Techniker vom Haus die Zisch- und S-Laute super eingestellt, die zuerst suboptimal klangen. Aufgrund der Publikumsgröße hätten wir das gar nicht gebraucht, sondern einfach unverstärkt spielen können, aber da schon alles eingerichtet war, ließen wir die Mikros an. Bei so viel Ruhe im Saal konnten wir die Stellen, an denen es sonst recht turbulent wird, sogar endlich mal richtig schön ausspielen. So als wollten wir sagen: Schaut her, liebe Jury, wir können echt gut spielen, auch in einem fast leeren Raum!

Gegen Mitte der Vorstellung, an der Stelle im Stück, wo sich Oma im Wilden Westen in eine Schlägerei verwickelt, war das Eis gebrochen und es gab erste Reaktionen. Die Jury stand auf und verließ den Saal! Ha ha, nein, zum Glück nicht! Unser kleines, feines Publikum reagierte auf uns, und wir spürten: Es sind tatsächlich doch Kinder im Raum – und keine superkritische Theaterjury, die erst nach siebenstündiger ekstatischer Darbietung eines hochkarätigen Bühnensembles voller emotionalem Tiefgang, eines Orchesters auf Weltklasseniveau und einer Materialschlacht, die die Welt noch nie gesehen hat, gönnerhaft einen Mundwinkel leicht nach oben zieht und gnädigerweise eine halbwegs freundliche Kritik verfasst, während der Rest des normalsterblichen Publikums schon lange eingeschlafen oder nach Hause gegangen ist. Die kleine Kindergartengruppe, die extra aus einem anderen Stadtteil angereist war, stand jedenfalls erst nach der Vorstellung auf und machte noch ein Foto von uns. „Bis zum nächsten Mal!“, sagten sie sogar …

Mittags rief dann jemand aus Dachau an und fragte, ob für den Auftritt nächste Woche alles klar sei oder ob ich noch Fragen hätte. Ich bekam einen Schreck, weil ich an besagtem Tag in München in der Bücherei spiele und nicht in Dachau. Ich dachte kurz, ich hätte gar einen Termin verschwitzt oder versehentlich doppelt vergeben. So war es aber zum Glück nicht. Sie hatten zwar meine Nummer gewählt, aber ein anderes mobiles Theater gebucht. Ich atmete erleichtert auf und konnte mit der richtigen Nummer eines geschätzten Kollegen weiterhelfen.

Abends dann die Vorstellung, die aufgrund eines internen Fehlers beim Veranstalter statt um 16 Uhr erst um 18 Uhr stattfand und überall so beworben war und sich daher kurzfristig nicht mehr auf 16 Uhr umstellen ließ. Auch das war aufregend: Würden Familien trotz der für Kindertheater späten Uhrzeit kommen? Als wir um 17 Uhr in den Saal kamen, der nächste Schreck: Alle Stühle waren weg! Ich dachte: O je, jetzt ist gleichzeitig die Tanzkapelle mit Blasmusik um 18 Uhr im Saal und braucht Platz! Aber es war keine Kapelle geplant, nur die Stühle hatte man abgebaut, und so bauten wir einige wieder auf. Mir fiel ein, dass die Seite, die wir unter einem Stuhl versteckt hatten und die im Stück mitspielt, ebenfalls verschwunden war. Ich schaute unter alle Stühle, um sie schließlich im Mülleimer zu finden … Später kamen tatsächlich einige Familien. Es war um einiges lebhafter als am Vormittag und sogar etwas voller. Danach plauderten wir noch ein wenig mit unserem mehrsprachigen Publikum und wünschten eine gute Nacht.

Auf meinem Heimweg mit der U-Bahn zum Bahnhof verfing sich der Schnürsenkel einer Frau vor mir am unteren Ende der Rolltreppe. Ein Mann versuchte ihr zu helfen, und damit ich nicht in sie hineinrollte, lief ich quasi rückwärts auf der Stelle und dachte mir: Manchmal muss man rückwärts laufen, um vorwärtszukommen. Die Frau wurde befreit und bedankte sich bei ihrem Retter, der verlegen lächelte. Und ich dachte, wie schön es wäre, wenn sie sich jetzt verlieben würden, aber sie liefen in verschiedene Richtungen davon. Und weil ich halt nicht Amor bin, konnte ich nichts dagegen tun.

Aber ich dachte mir, sollte ich mal zu einem echten Casting eingeladen werden, würde ich nach den heutigen Erlebnissen sagen: „Ja, aber nur mit Judith, also known as Oma, my partner in crime. And my partner in castings!“ Und wenn sie dann hinterher sagen: „Don’t call us, we call you!“, dann hätten wir trotzdem eine neue kleine Geschichte zusammen erlebt. Und sind die Geschichten über das Scheitern nicht eigentlich viel spannender und lustiger als jene über den Erfolg? Und ist nicht jede Geschichte, aus der man halt in der Situation das Beste macht, letztendlich eine kleine Liebeserklärung ans Leben?

 
Zurück | Seite neu laden | Lesezeichen einfügen | Drucken | Link emailen
^
Close MenuCLOWNESS Theater