Begegnung der anderen Art! (25. Januar 2024)
Das Bild zeigt mein Gepäck für die „Geschichte vom Meer“. Ich bin mit der Bahn unterwegs von Augsburg nach München zur Aktion „Lesestart“ in zwei Stadtteilbibliotheken. Theater für Kinder ab drei. Sie sind meist das erste Mal bei einer Aufführung, daher ist es immer wieder eine Herausforderung, den Spielort in einen vertrauensvollen, lustigen und lebendigen Raum zu verwandeln. Wenn es gelingt, ist das schön.
Ein kleiner Junge kam nach der Vorstellung zu mir und sagte: „Ich kenne dich schon.“ Ich habe gefragt: „Ah, haben wir uns vorher schon mal getroffen?“ Er: „Ne, nur heute hier. Und jetzt kennen wir uns!“ „Ja, jetzt kennen wir uns“, habe ich geantwortet. „Ja“, hat er gesagt: „Seit heute kennen wir uns schon richtig gut!“ Dann musste er nach Hause und winkte mir zum Abschied.
Auf der Rückfahrt spätabends im Zug hatte ich allerdings eine Begegnung der anderen Art! Zunächst war ich froh, dass „go ahead“, die Regionalbahn nach Augsburg, nicht streikte, sondern fuhr. Weil jedoch die Münchner S-Bahn ihre Arbeit niedergelegt hatte, war der Waggon, indem ich mit meinem Gepäck saß, recht voll. Die Leute standen dicht gedrängt, und ich war erleichtert, einen Sitzplatz ergattert zu haben. Der Wagen füllte sich immer mehr. Eine Frau stieg ein. Sie schob einen Rollstuhl, der mit weißen Kissen ausstaffiert war, vor sich her und setzte sich dann in den Rollstuhl. Sie war cremefarben gekleidet, vermutlich um die dreißig Jahre alt, hatte weiße Kopfhörer im Ohr und beige Badelatschen an den Füßen. Die Leute standen dicht gedrängt um sie herum. Als der Zug abfuhr, setzte sich auch die Rollstuhlfahrerin in Bewegung. Irgendwie gelang es ihr, durch die Menschenmenge hindurchzukommen.
Vor dem Mann, der neben mir stand, hielt sie an und sagte mit mechanischer Sprechweise zwei Sätze, die man sich auf der Zunge zergehen lassen sollte: „Es fehlen zweiundzwanzig Euro vierzig für die Grundversorgung. Es wird inständig gebeten um eine Leihgabe durch Noten von fünf Euro, zehn Euro, zwanzig Euro oder fünfzig Euro für die Grundversorgung.“ Der Mann war so perplex, dass er seinen Geldbeutel herausholte und ihr zwei Euro in die Hand drückte. Weil die Summe für die Grundversorgung vermutlich noch nicht ausreichend war, wiederholte sie ihren Satz. Als er daraufhin den Kopf schüttelte, fuhr sie weiter und sagte bei einem anderen Fahrgast den stakkatoartigen Text auf. So ging das eine ganze Weile. Die meisten Menschen starrten auf ihre Smartphones, hatten selbst Kopfhörer im Ohr und schienen die Frau gar nicht zu bemerken. Sie blieb jedoch hartnäckig und wartete auf irgendeine Form der Reaktion.
Mir wurde die Situation zunehmend unangenehm. Ich zeigte auf ihre Kopfhörer und fragte, ob sie sich den Text gerade übersetzen ließe. Sie schüttelte den Kopf, starrte mich an und bat mich um die geschenkte Leihgabe. Als ich verneinte, rollte sie weiter und wiederholte den Satz bestimmt noch mindestens zehnmal. Weil die Situation so skurril war, überlegte ich, ob ich das alles filmen sollte. Als hätte sie meine Gedanken gelesen, drehte sie blitzschnell ihren Kopf um gefühlte 360 Grad, schaute mich mit starrem Blick an und sagte streng: „Keine Mobiltelefone benutzen!“ Ich fühlte mich ertappt und legte erschrocken mein Smartphone weg. Sie setzte ihre Arbeit fort.
Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob sie wirklich echt war. Ich fragte zwei Männer, die wie ich das Geschehen aufmerksam verfolgten und nicht durch ihre Smartphones abgelenkt waren: Ist die Frau überhaupt echt? Beide lachten, und einer meinte, er habe sich gerade die gleiche Frage gestellt. Vielleicht war die Festplatte kaputt – der Betrag, den sie für die Grundversorgung benötigte, wurde ja nicht kleiner, obwohl sie bereits zwei Euro erhalten hatte. In diesem Moment ertönte aus den Lautsprechern eine blecherne Stimme, die auch nicht wirklich menschlich klang. Der Mann, mit dem ich mich gerade unterhalten hatte, sagte: „Und der Schaffner ist auch nicht echt!“, und wir mussten lachen. „Aber ihr seid Menschen, oder?“, fragte ich. „Ja“, sagte einer aus tiefstem Herzen, der andere nickte, und ich sagte: „Ich auch, dann sind wir ja schon mal zu dritt.“ Wir lachten erneut, dann erreichten wir München-Pasing. Die Frau stand auf und schob ihren Rollstuhl nach draußen. Mit ihr gingen die anderen Smartphone-Maschinenwesen sowie die zwei Männer, die mir zum Abschied winkten. Erleichtert atmete ich auf. Ich war froh, dass die Maschinenwesen weg waren.
Der Schaffner kam und freute sich so sehr über meine zwei kleinen Stühle, dass ich beschloss, er müsse auch ein Mensch sein. Ich fragte ihn, ob er sie ausleihen wolle. Er lachte auf wahrhaft menschliche Art und erwiderte: „Die Stühle sind wunderschön, aber vielleicht auf Dauer für mich doch ein bisschen unbequem.“ Freundlich fügte er hinzu: „Aber sehr gerne helfe ich Ihnen beim Aussteigen mit Ihrem Gepäck.“ Bei so viel Menschlichkeit wurde mir ganz warm ums Herz.
Mir kam der Gedanke, das vorherige Geschehen sei vielleicht einfach eine skurrile Theaterperformance gewesen. Innovativ! Eh klar. Gefördert von der Landeshauptstadt München! Deswegen musste die Frau auch in München-Pasing aussteigen.
Begründung der Jury: Dieses innovativ-inklusive Theaterprojekt wählt den öffentlichen Raum als Ort für seine Inszenierung. Dort wird das Publikum von einem roboterartigen weiblichen Wesen im Rollstuhl nach Geld gefragt. Somit wird ihr eigenes Konsumverhalten in einer Alltagssituationen in Frage gestellt. Das Publikum kann dem Spiel im Zug nicht entkommen und fühlt sich durch die Darstellerin in die Ecke gedrängt. Durch ihre Bedürftigkeit nach einer adäquaten Grundversorgung werden die Fahrgäste selbst gezwungenermaßen mit dem Thema Armut konfrontiert.
Fördersumme: 30.000 €. Der obligatorische Eigenanteil der Künstlerin wird durch Betteln eingebracht. Zum „No Future“-Brecht-Festival in Augsburg würde diese Performance eigentlich auch ganz gut passen. Fördersumme mit einer Null weniger.
Und die Moral von der Geschicht’? Vielleicht mal ohne so viel Laber-Rhabarber: Das Leben ist ein Theaterstück, und manche Protagonisten darin möchte man näher kennenlernen, manche lieber nicht.