Tagträume im Herbst (9. November 2024)
Ich fahre heute Mittag ins Theater. Grau ist es draußen. In der Straßenbahn sehe ich müde Menschen. Viele erschöpft. Einige ärgerlich, über alles und nichts. Verständlich wahrscheinlich, wenn man ihre Welt kennen würde. Ihr Leben, ihre Zerrissenheit, ihre Sorgen – sichtbar in den Gesichtern. Die Kulisse der Außenwelt zieht an mir vorbei.
Die Tram ist zu spät. Verspätung wegen Engpässen, heißt es in Leuchtbuchstaben. Als die Tram kommt, ist sie rappelvoll. „Es ist kein Platz. Haltet euch fest, damit ihr nicht umfallt“, befiehlt eine gestresste Mutter ihrer Kinderschar. „Luis, hörst du jetzt bitte auf“, zischt der Vater. Womit, weiß ich nicht. Das andere Kind betrachtet das Herbstblatt in der kleinen Hand. „Emma, halt dich fest, sonst fällst du! Nicht immer träumen!“, sagt die Mutter.
Während ich aussteige und Richtung Theater gehe, denke ich: Kindertheater ist ein Gegenentwurf. Ein Plädoyer fürs Träumen und für eine liebevolle Welt. Alle haben da einen Platz. Es ist schön dort und echt. Ich biege in die herbstliche Sommestraße ein, in der das Theater steht. Unter meinen Füßen raschelt das Laub. Es knistert. Ich mag das Geräusch.
Später bei der Vorstellung: Die Kinder im Publikum lachen. Sie lachen, wenn wir uns als Clowns immer wieder verpassen. Sie lachen, wenn ich mich als Glucks ärgere, weil ich mir vor Wut alle meine „zwölf“ Zehen gebrochen habe. Sie lachen, wenn wir Fehler machen. Sie jubeln, wenn uns plötzlich doch was gelingt. Sie sehen sich in uns. Wir spiegeln auch ihre Gefühlswelt, das innere Empfinden: verzweifeln, ärgern, trösten. Getröstet und geliebt werden. Und eine unbändige Abenteuerlust, die in uns allen schlummert. Wir fliegen heute bis zum Mond. Das Publikum macht den Countdown.
Für mich ist das eine Welt, wie sie sein könnte. Ich fühle mich da zu Hause. Im Spiel zeigt sich das Kind. Beim Schreiben offenbart sich der Mensch. Auf der Rückfahrt träume ich vor mich hin. Es geht mir gut. Ich sehe die Schönheit des Herbstes. Die Blätter fallen wie kleine Tagträume herab. Niemand sagt zu mir, ich solle aufhören zu träumen. So entstehen Geschichten. Sie liegen in der Luft. Man muss sie nur in die Hand nehmen, wie ein Blatt, von allen Seiten betrachten und dann aufschreiben. Ich bringe mein Kostüm ins Lager.
Vor mir läuft eine Familie, Eltern und ein Kind. Das Mädchen juchzt: „Ich laufe auf der Mauer.“ Sie meint eine kleine Erhöhung von vierzig Zentimetern.
„Auf der Mauer auf der Lauer …“, summt die Mutter. Der Vater sagt streng: „Aber nimm die Hände aus den Jackentaschen!“
Während er spricht, bleibt er abrupt stehen. Ich stehe plötzlich ganz nah hinter ihm und frage mit gespielter Kinderstimme: „Aber warum?“
Er dreht sich um, sieht mich und muss lachen. „Gute Frage“, sagt er und geht zu seiner Tochter. „Nimm bitte die Hände aus den Jackentaschen, damit du nicht runterfällst!“
Heute scheinen die Erwachsenen Angst zu haben, dass ihre Kinder fallen, denke ich mir. Vielleicht weil Herbst ist. „Nein, das liegt an der Schwerkraft, die zieht einen nach unten!“, würde vielleicht ein Kind im Publikum rufen. „Ach so“, antworte ich in meinen Gedanken: „Umso besser, dass es Träume und Geschichten gibt, wo wir die Schwerkraft aufheben, schwerelos werden und bis zum Mond fliegen können.“